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Titel
Am Anfang war Biafra. Humanitäre Hilfe in den USA und der Bundesrepublik Deutschland


Autor(en)
Hannig, Florian
Erschienen
Frankfurt am Main 2021: Campus Verlag
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Hof, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die Geschichte des Humanitarismus hat Konjunktur. An der Schnittstelle dynamisch wachsender Forschungsfelder gelegen, bieten sich vielfältige Anknüpfungspunkte zur Geschichte von internationaler Politik, Menschenrechten, Umwelt und Nachhaltigkeit, Flucht und Migration. In den vergangenen Jahren verstärkt debattiert wurden Fragen der Periodisierung innerhalb des 20. Jahrhunderts und der Bedeutung länger zurückreichender Traditionslinien. Ferner rückten nichtstaatliche Akteure, zivilgesellschaftliche Organisationen und internationale Institutionen sowie die Rolle der Medien in den Blick der Forschung. Oft gefordert, jedoch selten eingelöst, wurde der Anspruch globaler Ansätze – noch immer dominieren westliche und europäische Perspektiven. Zudem bleibt in der Forschungsliteratur die Trennung zwischen langfristig angelegter Entwicklungshilfe und humanitärer Hilfe in Notsituationen unscharf.

An dieser Stelle möchte Florian Hannig mit seiner Studie „Am Anfang war Biafra. Humanitäre Hilfe in den USA und der Bundesrepublik Deutschland“ ansetzen, die 2021 bei Campus erschienen ist. Laut Hannig, der mit dieser Arbeit im Wintersemester 2017/18 an der Universität Halle-Wittenberg promoviert worden ist, wird die Bedeutung des Biafrakrieges für die Entwicklung der humanitären Hilfe zwar oftmals betont. Aber weder sei sie empirisch eingehend belegt noch seien die Wirkung und die Reichweite bewertet worden. Um dieses Desiderat zu beheben, interpretiert der Autor humanitäre Hilfe als „Politikfeld“ und möchte nachzeichnen, wie es sich etablieren und konsolidieren konnte.

Anhand amerikanischer, deutscher, britischer sowie vereinzelter indischer Archivmaterialien geht Hannig der Frage nach, „weshalb außereuropäische Konflikte und Katastrophen Ende der 1960er Jahre eine so große Aufmerksamkeit erhielten und warum sich zeitgleich [in verschiedenen Ländern] dauerhafte Hilfsstrukturen etablierten“ (S. 17). Diese Institutionalisierungsgeschichte, die sich auch in einer erhöhten Spendenbereitschaft offenbart habe, kann laut Hannig nur verstanden und letztlich verortet werden, wenn auch die zum Ausdruck gebrachten Emotionen wie Mitleid und Empathie analysiert und mit den institutionellen Entwicklungen in Bezug gesetzt werden. Methodisch orientiert sich Hannig zum einen an Fritz Breithaupts Verständnis von Empathie als Reaktion auf ein Narrativ, in dem das „Leiden nicht als willkürlich, sondern als Resultat einer Ungerechtigkeit erscheint“ (S. 19). Zum anderen greift er William M. Reddys Konzept der emotives auf, um zu analysieren, wie Gefühlswörter instrumentalisiert wurden, um politische Forderungen zu transportieren. Sein Entschluss, die konkreten Hilfsaktionen vor Ort auszuklammern, ist aus forschungspraktischen Gesichtspunkten nachvollziehbar, aber gleichwohl bedauerlich, da dieses Thema immer noch ein Desiderat in der Geschichtswissenschaft ist.

Seine zentralen Ergebnisse stellt Hannig gleich an den Anfang der Studie: Humanitäre Hilfe habe sich in wichtigen Geberstaaten als eigenständiges „Politikfeld“ erst gegen Ende der 1960er-Jahre institutionalisiert, nachdem sich die Überzeugung durchgesetzt habe, dass Nothilfe einer dauerhaften politischen Steuerung bedürfe. Der Biafrakrieg von 1967 bis 1970 habe diese Entwicklung verstärkt. Den Grund für die Entstehung des „Politikfelds“ humanitäre Hilfe sieht Hannig im zunehmenden innenpolitischen Druck auf die Regierungen, dem als ungerecht empfundenen Leiden der Bevölkerung in Biafra ein Ende zu setzen. Die humanitäre Hilfe habe demnach als ein „Ventil“ für gesellschaftliche Empörung fungiert (S. 10f.).

Hannigs Studie ist in drei große, chronologisch angelegte Teile untergliedert. Der erste Abschnitt „Der kurze Aufschwung der Nothilfe (1943–1951)“ setzt mit dem Zweiten Weltkrieg ein und thematisiert neben den zahlreichen privaten Hilfsaktionen auch die Gründung und Arbeit der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA). Während dieser Phase habe der Schwerpunkt in der Tat auf den humanitären Bereichen „relief“ und „rehabilitation“ gelegen. Im zweiten Abschnitt „Nothilfe im Schatten von Entwicklung (1951–1967)“ schildert der Autor, wann und weshalb sich die USA als wichtigster Geldgeber aus den internationalen Organisationen zurückzogen, die sich der Nothilfe verschrieben hatten. Laut Hannig betrachteten die Washingtoner Entscheidungsträger in Zeiten des Kalten Krieges eine institutionalisierte Nothilfe als nicht mehr adäquat und bevorzugten die stärker politisierte langfristige Entwicklungshilfe. Dieser Handlungsmaxime seien auch andere Geberstaaten wie die Bundesrepublik Deutschland gefolgt. Im dritten Abschnitt „Institutionalisierung der humanitären Hilfe“ erläutert Hannig die Gründe, weshalb sich humanitäre Hilfe gerade im Zuge des Biafrakrieges als „Politikfeld“ konsolidierte. Dabei legt er anhand der medialen Berichterstattung sowie von Briefen und Eingaben anschaulich dar, wie sich der innenpolitische Druck intensivierte, dem sich die Regierungen in Bonn und Washington gegenübersahen. Ergänzend wirft der Autor noch einen Blick auf die etwa zeitgleich stattfindende Ostpakistan-Krise, um anhand dieses Fallbeispiels die Reaktion eines Empfängerlandes auf den Institutionalisierungsprozess zu belegen. Abgerundet wird der dritte Abschnitt durch einen knappen Ausblick auf die humanitäre Hilfe in der Sahelzone während der Jahre 1972 bis 1975.

Mit seiner ambitionierten Studie versucht Hannig, der bereits einige Aufsätze zu diesem Thema veröffentlicht hat, den im Trend liegenden Untersuchungsgegenstand „Biafrakrieg“ aus einem neuen Blickwinkel zu beleuchten. Dabei liefert er in seiner mitunter kleinteiligen Arbeit zahlreiche neue Details. Gewinnbringend ist die Studie vor allem dort, wo sich Hannig auf archivalische Quellen stützt, um die Analyse der Entstehung und Intensivierung des innenpolitischen Drucks empirisch zu unterfüttern. Sein forschungsstrategisch verständliches Bemühen, sich von bereits vorliegenden Arbeiten – insbesondere von der im Jahr seiner Promotion erschienenen Studie Lasse Heertens (2017)1 – abzusetzen, wirkt mitunter indes etwas angestrengt. Dieses Problem lässt sich an zwei Bereichen skizzieren.

Erstens irritiert Hannigs konzeptionelle Entscheidung, in teils mäanderndem Detail über Ereignisse zu berichten, die er nicht als humanitäre Hilfe definiert. Dies wird besonders im ersten Abschnitt seiner Studie deutlich, die zudem – so räumt Hannig selbst ein – überwiegend nicht auf eigenen Forschungen beruht. Mag es auch richtig und wichtig sein, die Vorgeschichte des eigentlichen Untersuchungsgegenstands darzulegen, so hätten die Ausführungen zu den 1940er- und frühen 1950er-Jahren konziser ausfallen können. Stattdessen hätte sich der Autor zum einen intensiver mit teils widersprüchlichen Entwicklungen in den späten 1950er- und den 1960er-Jahren auseinandersetzen können. Erfolgte die Gründung des World Food Programmes der Vereinten Nationen im Jahr 1961 wirklich nur widerwillig? Und selbst wenn das so war, stellte diese Entscheidung dann nicht doch eine Abkehr von den damals angeblich dominierenden Ad-hoc-Lösungen dar? Auch die institutionelle Konsolidierung und finanzielle Stärkung des 1950 gegründeten Flüchtlings-Hochkommissariats (UNHCR), die Hannig ausführlich beschreibt, lässt sich nur schwer mit seinen Thesen vereinbaren. Zum anderen hätte sich der Verfasser noch stärker auf die Zeit nach dem nigerianischen Bürgerkrieg konzentrieren können. Die Kritik an einer fehlenden beziehungsweise mangelhaften Institutionalisierung humanitärer Hilfe trat bekanntlich nicht nur in den frühen 1970er-Jahren auf – eine Kritik, die Hannig zu entkräften versucht –, sondern hielt bis weit in die 1980er-Jahre an. Wie passt diese Kritik zu seiner übergreifenden These? Zudem hätte Hannig durch eine zeitliche Verschiebung die Bundesrepublik Deutschland stärker als Akteur in den Fokus rücken können.

Zweitens betont Hannig überzeugend, dass sich die Institutionalisierung transnational ereignete und deshalb auch nur transnational analysiert werden könne. Aus diesem Grund untersucht er die Etablierung und Konsolidierung des „Politikfelds“ humanitäre Hilfe aus der Perspektiven der Geberländer (USA und Bundesrepublik Deutschland), der Vereinten Nationen und der Empfängerländer (am Beispiel Indien). Bei genauerem Hinsehen erscheint aber die Akteursauswahl nicht immer überzeugend. So tritt die Bundesrepublik aufgrund des zeitlichen Untersuchungsrahmens hinter die USA zurück, und die These, dass beide Länder das Potential von Nothilfe für die Durchsetzung außen- und innenpolitischer Interessen für gering erachteten, ist zumindest diskussionswürdig. Ferner mögen die Vereinten Nationen zwar Einblicke in die „globalen“ Diskussionen gewähren – und ein Fokus auf die UN ist aus arbeitstechnischen Gründen gerade für eine Dissertation auch mehr als verständlich –, aber innerhalb der Forschung ist ein solcher, etwas verengter Zugang dennoch umstritten.2 Und auch Hannigs Begründung, die Reaktion eines Empfängerlandes nicht anhand Nigerias, sondern am indischen Beispiel zu untersuchen, wirft unweigerlich Fragen nach der Vergleichbarkeit der beiden Konflikte für die Institutionalisierung der humanitären Hilfe als „Politikfeld“ auf.

Bei der Lektüre der Studie beschleicht den Leser zumindest zwischen den Zeilen das Gefühl, dass der Autor mit der zugegebenermaßen undankbaren Aufgabe kämpfte, sich gegenüber anderen Studien zum Biafrakrieg und dessen Bedeutung für die Geschichte des Humanitarismus absetzen zu müssen. Dabei bietet sein Buch insgesamt ein beeindruckendes Panorama über die Entwicklung der humanitären Hilfe und ermöglicht dank eines umfangreichen Quellenkorpus anschauliche Einblicke gerade in die innenpolitischen Dimensionen. So leistet Florian Hannig trotz der zuvor angeführten Kritikpunkte einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Humanitarismus, dessen Mehrwert sich aber oft erst auf den zweiten Blick erschließt.

Anmerkungen:
1 Lasse Heerten, The Biafran War and Postcolonial Humanitarianism. Spectacles of Suffering, Cambridge 2017; rezensiert von Steven L.B. Jensen, in: H-Soz-Kult, 31.05.2018, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-26418 (17.10.2021).
2 Vgl. hierzu Sebastian Conrad, Globalgeschichte. Eine Einführung, München 2013, S. 90f.